Wie eine britische Minderheit gegen den Brexit kämpft
Von Franziska Bauer
Die Aktivisten von »British in Europe« verhandeln direkt mit der EU – und haben anders als Theresa May schon Erfolge vorzuweisen.
Ein Schwall von Fragen: »Warum ist meine Staatsbürgerschaft auf einmal ein Problem?« – »Kann es sein, dass ich abgeschoben werde? Wenn ja, wovon hängt das ab?« Das haben wir alle schon gehört – von Geflüchteten. Jetzt betreffen solche Schwierigkeiten allerdings eine Gruppe, mit der noch Anfang letzten Jahres niemand gerechnet hätte: Briten.
Britische Staatsbürger sind (unter anderem) über die ganze Europäische Union verteilt: Etwa 1,2 Millionen von ihnen leben im europäischen Ausland. Sie bilden damit noch vor den vielen Polen in Großbritannien die größte Gruppe von Migranten, deren Zukunft vom Ausgang der Brexit-Verhandlungen abhängt. Immer mehr Briten in der EU ergreifen die Initiative und wehren sich gegen die schwammigen Aussagen ranghoher Politiker aus beiden Lagern. Besonders die britische Premierministerin Theresa May fiel damit auf. Wie ein Mantra wiederholte sie: »Brexit means Brexit«, verbunden mit ihrem Versprechen, den Unionsausstieg »zum Erfolg zu machen«.
Viele Graswurzelbewegungen sind in den Monaten nach dem Referendum aus dem Boden geschossen. Dazu gehören gesamteuropäische, wie der Verein Pulse of Europe, aber auch solche, die sich auf einzelne Bevölkerungsgruppen konzentrieren. Die größte davon nennt sich British in Europe. Dieses Netzwerk von in der EU lebenden Briten setzt sich vor allem für Bürgerrechte ein. Derzeit hat es eigenen Angaben zufolge etwa 35.000 Mitglieder.
Der Grundstein für das Netzwerk
Der Journalist und Geiger Daniel Tetlow gehört zu den Mitgründern von British in Europe – Quelle: Daniel Tetlow copyright
Die Aktivisten Jane Golding und Daniel Tetlow setzten sich schon vor dem Brexit-Referendum für das Wahlrecht von Auslandsbriten ein. Vielen Auslandsbriten wurde jedoch erst im Sommer 2016 bewusst, wie wichtig ihre Rechte innerhalb der Union sind. Vieles, was vorher selbstverständlich war, steht plötzlich in Frage: Bewegungsfreiheit beim Studieren, Arbeiten und Reisen oder der Entschluss, sich im EU-Ausland niederzulassen. British in Europe setzt sich dafür ein, dass diese Bürgerrechte erhalten bleiben. »Wir wollen einfach keinen niedrigeren Status akzeptieren«, erklärt Tetlow im Interview in einem Berliner Café. Der ehemalige BBC-Mitarbeiter und Geiger lebt seit 3 Jahren mit seiner Frau und seinen 2 Töchtern in der Bundeshauptstadt. Der Ausgang des Referendums gab ihm und der Anwältin Golding den letzten Anstoß dazu, eine eigene Bürgerrechtsinitiative ins Leben zu rufen und sich damit inhaltlich breiter aufzustellen. Die beiden lernten sich in Berlin auf einem Informations- und Vernetzungsabend für Briten kennen und fanden schnell ihr gemeinsames politisches Ziel.
Zum ersten selbst organisierten Treffen kamen etwa 200 Interessierte, erzählt Tetlow. »Das war der Zeitpunkt, an dem wir begriffen haben, wie viele Briten sich von einem potenziellen Brexit bedroht fühlen und wie viele sich Sorgen über die Folgen machen.«
Masse und Klasse
Die offizielle Zusammenarbeit mit anderen Organisationen startete im Winter. Die Kontaktaufnahme begann, als die britische Regierung zivile Vertreter von in der EU lebenden Briten einlud, ihre Forderungen vor einem Ausschuss in London persönlich vorzutragen. Die 4 Repräsentanten, die damals vorsprachen, sind heute Mitglieder verschiedener Landesverbände von British in Europe.
Zeitgleich entstand Kontakt zwischen der Gruppierung um die Spezialistin für EU-Recht Jane Golding und Daniel Tetlow sowie einer französischen Organisation mit ähnlichen Zielen. Dies war die Geburtsstunde von British in Europe. Die ersten landesweiten Gruppen wie British in Germany und British in France vernetzten sich.
Heute besteht British in Europe aus 11 Partnerorganisationen, die über die ganze EU verteilt sind und sich wiederum in kleinere Gruppen aufspalten – abhängig von ihrem Ort oder einem bestimmten Schwerpunktthema. Als erstes gemeinsames Werk entstand im Februar eine Antwort auf das von Großbritannien vorgelegte »White Paper«. Das Netzwerk fordert Rücksicht auf die Rechte der Auslandsbriten. Dazu gehört das Recht, im EU-Ausland zu arbeiten und sich dort beruflich zu etablieren sowie Rente zu beziehen, falls Anspruch besteht.
Jane Golding (rechts) mit dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, Antonio Tajani, (2. v. r.) und Mitgliedern der Bürgerrechtsinitiative the3million am 27. September in Brüssel – Quelle: British in Europe copyright
Der Beauftragte der EU-Kommission für die Brexit-Verhandlungen, Michel Barnier, durfte vor dem offiziellen Austrittsgesuch nach Artikel 50 keine offiziellen politischen Gespräche aufnehmen, ließ sich aber auf ein Treffen mit British in Europe als Bürgerinitiative ein – ein echter Erfolg für die Aktivisten. Schon mehrmals traf sich das »Advocacy-Team« des Netzwerks mit Barnier und seiner Arbeitsgruppe, der »Artikel-50-Task-Force«, vor den Verhandlungsrunden in Brüssel. In diesem Rahmen bewerten und kommentieren die zivilen Repräsentanten mit Jane Golding an der Spitze die offiziellen Unterredungen zwischen der Union und Großbritannien und bringen eigene Forderungen ein.
Probleme an der Graswurzel anpacken
Wie bei den Partnerorganisationen wird in Deutschland national, regional und lokal gearbeitet. Die nationale Ebene übernimmt British in Germany, das aus 11 Teams besteht. Jedes hat eine organisatorische oder inhaltliche Spezialisierung: Von Medienarbeit oder Fundraising bis zu Themenschwerpunkten wie Pensionssicherung.
Die Übersetzerin Ingrid Taylor lebt seit 1988 in München. Sie engagiert sich auf regionaler Ebene für British in Bavaria. Für sie ist vor allem die Staatsbürgerschaft ein Thema. Ingrid Taylor berichtet von vielen »alteingesessenen« Briten in Bayern, die die deutsche Staatsbürgerschaft direkt nach dem Referendum beantragt hätten. 8 Jahre muss man in der Regel dafür als EU-Bürger in Deutschland gelebt haben.
Die Wartezeiten sind lang, hier derzeit etwa ein Jahr. Erhalten die Leute die Staatsbürgerschaft bis zum wahrscheinlichen Brexit-Datum im März 2019, ist für sie eine doppelte möglich. Was danach mit der Regelung passiert, weiß niemand genau. Die meisten Briten, die ich kenne, sind älter. Sie wollen ihren britischen Pass auf keinen Fall aufgeben. – Ingrid Taylor, British in Bavaria
Taylor betont, dass sie ihre Arbeit auch für diejenigen mache, die nicht genügend Sprachkenntnisse besäßen, um sich über ihre Rechte in Deutschland zu informieren. Der Aktivistin zufolge sei das Netzwerk somit auch ein solidarisches »Sprachrohr« für die ganze Bevölkerungsgruppe.
Gekommen, um zu bleiben
Nach der EU-Freizügigkeitsrichtlinie aus dem Jahr 2004 darf sich jeder Unionsbürger innerhalb der Staatengemeinschaft frei bewegen. Für die Briten in der EU steht in dieser Hinsicht viel auf dem Spiel: Als »Noch-Mitglied« in der Union genießen sie im Moment unter bestimmten Umständen die Freizügigkeit und das Daueraufenthaltsrecht in der EU-27.
Eine Voraussetzung dafür ist, dass sie 5 Jahre lang ununterbrochen in einem Land gelebt haben. Jane Golding erklärt das Problem: »Bis jetzt hat Großbritannien bei den Verhandlungen so getan, als wäre sein Vorschlag eines Aufenthaltsrechts das gleiche wie ein Daueraufenthaltsrecht. Die Regierung hat die Öffentlichkeit aber im Unklaren darüber gelassen, was ihr Vorschlag genau enthält. Für uns ist ein Daueraufenthaltsrecht sehr wichtig.« Nach der vierten Runde der Austrittsverhandlungen Ende September sprach der EU-Chefverhandler Michel Barnier von einer »konstruktiven Woche«. Unter anderem machte die britische Regierung EU-Bürgern in Großbritannien zum ersten Mal entscheidende Zugeständnisse. EU-Ausländer dürfen nun, auch wenn sie 2 Jahre ohne Unterbrechung außerhalb des Landes gelebt haben, wieder nach Großbritannien zurückkehren – ohne Folgen für ihre Aufenthaltsberechtigung.
Proeuropäischer Protest in Manchester, Oktober 2017 – Quelle: flickr / Ilovetheeu CC BY-SA
Dies bedeutet einen großen Schritt in die richtige Richtung für the3million. Die Organisation setzt sich für die Rechte von EU-Bürgern in Großbritannien ein. Als Partner von British in Europe trägt es dessen Kampagnen mit und es gibt, wenn möglich, gemeinsame Auftritte. Trotzdem ist es nur ein Etappenziel für die beiden großen Netzwerke. Jane Golding wird nicht müde zu betonen, dass es sich um ein untrennbares »Bündel von Rechten« handelt. »Man braucht sie alle, um einen Wohnsitz zu haben, zu arbeiten, eine Familie zu gründen und ein Leben in einem anderen Land aufzubauen. Wenn ich eines dieser Rechte wegnehme, hat das Folgen für die anderen.«
Der Anwältin zufolge sei gerade zu Beginn ihrer Zeit als Aktivistin das »Right to Remain«, das Recht zu bleiben, in aller Munde gewesen. Jane Golding verdeutlicht an einem Beispiel, warum es jedoch kurzsichtig ist, sich ausschließlich darauf zu konzentrieren:
Wenn ich zwar das Recht habe, in einem anderen Land zu arbeiten, aber mein Abschluss dort nicht anerkannt ist, werde ich in meinem Fachgebiet keine Arbeit finden. Was bringt mir also das Recht, zu bleiben? Und wenn ich nicht arbeiten muss, aber auch keinen Zugang zum Gesundheitssystem habe, was bringt mir dann das Recht zu bleiben? – Jane Golding
Gemeinsam heißt offensichtlich stark
Auch neben der politischen Lobbyarbeit für ihre Rechte setzt das Bürgerrechtsnetzwerk wichtige Impulse für seine Mitglieder – von denen sie zum Teil selbst überrascht sind.
- Zusammengehörigkeitsgefühl
Einige Aktive stellten einen plötzlichen Zusammenhalt in einer vermeintlichen Schicksalsgemeinschaft fest. Jane Golding schmunzelt, als sie erzählt, dass Briten normalerweise nicht dazu neigten, sich außerhalb ihrer Landesgrenzen zu solidarisieren. »Gerade in größeren Ländern wie Frankreich oder Deutschland war das bisher schwierig. In Berlin kannte ich kaum Landsleute, bis ich Teil dieses Netzwerks wurde.« Ingrid Taylor in München spricht sogar von einem »familiären Gefühl«. Zusammenhalt gibt es aber auch noch auf anderer Ebene: Die 24-jährige Jennifer Hayhurst lebt erst seit 2 Jahren in Deutschland und erklärt, dass sie sich aus Solidarität engagiere: »Natürlich bin ich auch betroffen, aber sicher noch flexibler als andere, was die Zukunft angeht. Ich habe noch nicht endgültig entschieden, wo ich leben will.« Für sie bleibt die Rückkehr nach Großbritannien eine Option.
- Identität
Das Netzwerk tritt nach eigener Aussage für eine britische wie europäische Identität ein, die offen und integrativ ist. Das Argument ist, dass man sich mehreren Gruppen und Ländern zugehörig fühlen kann und sich nicht zwangsläufig für eine(s) entscheiden muss. Die Übersetzerin Hayhurst bringt es auf den Punkt: »Die Behauptung, dass es einen Konflikt gäbe zwischen der europäischen Identität und der britischen, habe ich nie verstanden.« Unterschiede zur Grundhaltung gegenüber der Union gibt es allein aufgrund der Altersunterschiede innerhalb der Gruppierung: Während jüngere EU-Bürger nichts anderes als die Staatengemeinschaft kennen und seit jeher ihre Vorzüge genießen, wie etwa das Studienaustauschprogramm Erasmus, schätzen die Älteren die Union als ein errungenes Friedensprojekt. Jane Golding erklärt, dass beispielsweise die Forderung nach einer andauernden Freizügigkeit innerhalb der Union ihre Wurzeln in einer Identitätsfrage habe: »Die gefühlte Zugehörigkeit zu Europa ist uns allen gemeinsam, obwohl jedes Mitglied einen anderen Hintergrund hat.«
- »Empowerment«
Ein weiterer Punkt, der das Netzwerk dahin gebracht hat, wo es heute steht – nämlich zur Interessensvertretung bei Verhandlungen auf höchster Ebene – ist »Empowerment«. Der Journalist Daniel Tetlow beschreibt die Solidarität in diesem Sinne als Mittel zum Zweck: »Wenn man sich nur um die eigene Situation kümmert, wird man nicht ernstgenommen.« Golding bekräftigt, dass die Stärke besonders in der Zusammenarbeit mit the3million steckt: »Wir stehen als eine Gruppe für Bürgerrechte ein. Außerdem hat so die Gruppe der Briten in der EU neben den EU-Bürgern in Großbritannien endlich auch Aufmerksamkeit in der Presse bekommen. Letztere standen zunächst weitaus mehr im Fokus. Zusammen werden Pressemitteilungen veröffentlicht und Kampagnen organisiert. Bei der letzten gemeinsamen Aktion Mitte September versammelten sich Aktivisten vor dem britischen Parlament, um Hunderte von Abgeordneten persönlich dazu anzuhalten, die vollständigen Rechte der beiden Gruppen zu garantieren.
Gemeinsame Aktion der Initiativen British in Europe und the3million vor dem britischen Parlament Mitte September 2017. Die Organisationen setzen sich für die Rechte von Auslandsbriten – aber auch für die Belange von EU-Ausländern in Großbritannien – Quelle: British in Europe copyright
Kein Tropfen auf den heißen Stein
Eine Kombination von Faktoren scheint den Aktivisten Rückenwind zu geben: motivierte Führungspersönlichkeiten, eine festgelegte Organisationsstruktur, die Abschöpfung einer großen Bandbreite an Kompetenzen und die gute Vernetzung. In den vergangenen Wochen wurden gleich mehrere Partnerorganisationen gegründet. Dazu zählen British in Portugal, British in Romania sowie zuletzt British in Sweden.
Natürlich sind die Voraussetzungen nicht die gleichen wie bei anderen Graswurzelgruppen: Millionen sind betroffen und Zehntausende engagieren sich. Einige der international aktiven Mitglieder bringen Erfahrung aus Politik oder Lobbyarbeit mit, zum Teil sogar direkt aus Brüssel. British in Europe macht sich persönliche und berufliche Verbindungen effizient zunutze.
Letztendlich zeigt das Netzwerk, dass Bürgerinitiativen in Europa etwas bewegen können. Golding spricht von einer »Stimme«, die es vorher so nicht gab. Trotzdem muss British in Europe in den nächsten 1,5 Jahren unter Beweis stellen, dass es der Herausforderung gewachsen ist, die Brexit-Verhandlungen tatsächlich mitsteuern zu können. Im immer noch anhaltenden Verhandlungschaos ist das eine echte Mammutaufgabe.
Franziska Bauer hat einen MA in internationalem Journalismus und arbeitet derzeit als Redakteurin und freie Journalistin in Potsdam und Berlin. Sie interessiert sich für Flucht, Migration, Europa, Minderheiten und Gesellschaft – gerne auch in Kombination.
Links zum Artikel
- Statistik über Immigration nach und Emigration aus Großbritannien (englisch, 2017)
- Eine Analyse der New York Times über den Stand der Brexit-Verhandlungen nach der vorgezogenen Wahl in Großbritannien im Juni 2017 (englisch)
- Selbstvorstellung von British in Europe auf ihrer Website (englisch)
- Offizielle Website von British in Germany (englisch)
- Offizielle Website von British in France (englisch)
- Erster Entwurf eines alternativen »White Papers« (englisch, 2017)
- David Ehl erklärt die Brexit-Varianten von »hart« bis »weich«
- Die Richtlinie der Europäischen Gemeinschaft für die Personenfreizügigkeit innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraumes
- Pressemitteilung von Michel Barnier nach der vierten Runde der Artikel-50-Verhandlungen mit Großbritannien (englisch, 2017)
- Aufruf zur Teilnahme an der Kampagne von the3million (englisch)
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